75 Jahre Musik im Rundfunk

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Als am 22. Dezember 1920 über die Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen die erste Konzertübertragung mit weihnachtlicher Musik ausgestrahlt wurde, dachten wohl nur wenige daran, dass sich aus dem bescheidenen Anfang einmal ein weltumspannendes Medium entwickeln würde. Damals - vor genau 75 Jahren - hatten lediglich einige Ingenieure und Musikexperten das Vergnügen, den Beginn eines neuen Zeitalters mitzuerleben. Radios im landläufigen Sinne kannte man natürlich noch nicht. Es waren begabte Bastler und Tüftler, die damals die technischen Voraussetzungen für Sendung und Empfang der geheimnisvollen Wellen schufen. Aber bereits drei Jahre später, als am 29. Oktober 1923 im VOX-Haus am Potsdamer Platz in Berlin das erste deutsche "Unterhaltungsradio" begründet wurde, begann auch die große Zeit der "Unterhaltungselektronik": Firmen wie Telefunken, Lorenz oder Huth nahmen die Produktion von Empfängern, Antennen, Detektoren und allerlei Zubehör auf. Das führte dazu, dass binnen kürzester Zeit die Zahl der Rundfunkhörer von Null auf eine Million kletterte. Die erste Genehmigung erhielt übrigens der Zigarrenhändler Wilhelm Kohlhoff am 31.Oktober 1923. Ende November gab es 450, am 1.Juli 1924 100.000 und am 1.Januar 1926 eine Million private Rundfunkgeräte. Die Anfangsgebühr betrug 1923 rund 350 Milliarden Inflationsmark. Am 1.Januar 1924 legte man dann 60.- Reichsmark Jahresbeitrag fest, um wenige Monate später auf 2.- Reichsmark zu reduzieren!

Das Wort "Rundfunk" ist eine Sprachschöpfung des damaligen Staatssekretärs im Reichspostministerium, Dr. Hans Bredow (1879-1959), der als "Vater des deutschen Rundfunks" in die Geschichte einging. Begonnen hatte die neue Ära eigentlich bereits im 19. Jahrhundert mit einer Reihe interessanter und wichtiger wissenschaftlicher Experimente. So hatte der deutsche Physiker Heinrich Hertz (1857-94) im Jahre 1888 die von den Engländern Michael Faraday (1791-1867) und James Clerk Maxwell (1832-79) vorausgesagten elektromagnetischen Wellen nachgewiesen, indem er sie selbst erzeugte. Die wichtigste Vorstufe aber war dann im Jahre 1896 die drahtlose Telegraphie des Italo-Iren Marchese Guglielmo Marconi (1874-1937).

Die Amerikaner hatten ihre erste Mittelwelle schon 1921 in Betrieb genommen und die Londoner BBC begann ein Jahr vor dem Berliner VOX-Haus, also 1922, zu senden. Aber, wie gesagt, 1920 unternahm Deutschland die erste nennenswerte Konzertübertragung. Unter den Nationalsozialisten war dann der Rundfunk zu einer zentralisierten und wohlkontrollierten staatlichen Einrichtung, dem wichtigsten Propagandainstrument, geworden. Nach dem 2. Weltkrieg ordneten die Alliierten alles neu und übertrugen schließlich das staatliche Rundfunk-Monopol den Bundesländern. Die erste Sendung war am 13. Mai 1945. Sie kam vom Berliner Rundfunk, der damals noch im Funkhaus in der Masurenallee tätig war. 1950 wurde die "Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands" (ARD) begründet. Auf dem Territorium der DDR rief man 1952 das "Staatliche Rundfunkkomitee" ins Leben. Heute existiert in Deutschland wie in vielen Ländern der Welt das "duale System", in dem sich öffentlich-rechtliche Anstalten mit privaten Anbietern gemeinsam um die Gunst der Hörer (und Fernsehzuschauer) bemühen.

Nach dieser kurzen historischen Übersicht kehren wir zurück in die Anfangszeit. Wie ging es mit der Entwicklung der Musik im Rundfunk weiter?

Ein halbes Jahr nach der Ausstrahlung des Weihnachtskonzerts übertrug man am 8. Juni 1921 versuchsweise als erste Oper Puccinis Madame Butterfly aus der Berliner Staatsoper. 1923 wurde erstmalig eine Oper aus Londons Covent Garden übernommen und am 2. Oktober 1924 erfolgte die erste Übertragung aus der Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße. Wenige Tage später, am 8.Oktober, stand dann als erste reguläre Übertragung aus der Staatsoper Mozarts Zauberflöte auf dem Sendeplan.

In den Jahren 1924-27 eröffneten eine Vielzahl deutscher Sender ihre Programme, und ein allgemeiner Aufschwung des Rundfunkwesens setzte ein. Als Konsequenz ergaben sich damit auch eine Reihe profilierter Musiksendungen, unter denen das sogenannte Opernsendespiel besondere Erwähnung verdient. Das erste, das über den Berliner Sender ging, war eine Studioversion von Mozarts Hochzeit des Figaro. Im Unterschied zur Übertragung einer Oper von der Bühne herab, bei der sich die Tontechnik darauf beschränken musste, das vorhandene Klangbild so gut wie möglich abzubilden, wurden beim Opernsendespiel Solisten, Chor und Orchester so aufgestellt, dass eine optimale technische Wiedergabe gewährleistet war. Die Platzierung der Künstler in den Senderäumen war also völlig anders als im Opernhaus. Erst Jahre später, als sich die Qualität der Aufnahmetechnik und speziell der Mikrofone wesentlich verbessert hatte, konnte man zur Bühne zurückkehren, und das Opernsendespiel wurde zu einer nur noch historisch interessanten Etappe in der Entwicklung der Rundfunkmusik. 1931 veranstaltete Deutschland die erste weltweite Originalübertragung: aus dem Festspielhaus in Bayreuth ging Richard Wagners Oper Tristan und Isolde live um die Erde.

Neben der klassischen und zeitgenössischen Ernsten Musik spielte auch die Tanz- und Unterhaltungsmusik von Anfang an eine wichtige Rolle. Schließlich hatte man sehr früh erkannt, dass diese Gattungen viele Hörer anzogen, die durch ihre Rundfunkgebühren nicht unwesentlich zur Finanzierung des Mediums beitrugen. Heute würde man sagen, dass vor allem die Leichte Musik die "Einschaltquoten" in die Höhe trieb. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die bereits sehr früh einsetzende soziologische Erkundung der allgemeinen Situation des Rundfunkempfangs und der damit zusammenhängenden Komponenten wie Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Wohngegend und soziales Umfeld des einzelnen Hörers. Alfred Szendrei, ein profilierter Musikmann am Sender Leipzig, veröffentlichte bereits im "Rundfunk-Jahrbuch 1929", herausgegeben von der Reichsrundfunkgesellschaft in Berlin, einen Beitrag zur "Psychologie des Rundfunkhörers". Übrigens, dass man schon immer die Musik als wichtigen Programmteil wertete, ist daraus ersichtlich, dass unter den 28 ständigen Mitarbeitern der Funk-Stunde des Berliner Rundfunks schon im Jahre 1926 acht prominente Musiker vertreten waren, unter ihnen allein vier Dirigenten.

Es war von Anfang an das Bestreben der Sender, eigene Klangkörper zu unterhalten. Deren Mitglieder waren fest angestellt und mussten für ihr Gehalt alles spielen bzw. aufnehmen, was für das Musikprogramm gebraucht wurde. Die Beschränkung auf Schallplattenabspiele oder Aufnahmen mit funkfremden Klangkörpern wären auf die Dauer zu teuer geworden. Und so gab es schon sehr früh Orchester und Chöre, die höchsten qualitativen Ansprüchen genügten und den Namen einer Rundfunkanstalt trugen. Das 1925 gegründete "Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin" (RSB) ist das älteste von allen. Es besteht noch heute. Erste Chefdirigenten waren Wilhelm Buschkötter und Bruno Seidler-Winkler. Mit Eugen Jochum (1902-87) trat in den Jahren 1932-34 ein besonders profilierter Künstler an die Spitze des Orchesters. Berühmte Gastdirigenten, die vor 1945 mit dem Orchester arbeiteten, waren Wilhelm Furtwängler (1886-1954), Hermann Abendroth (1883-1956), Otto Klemperer (1885-1973), Fritz Busch (1890-1951), Bruno Walter (1876-1962) und Herbert von Karajan (1908-89). Komponisten wie Darius Milhaud (1892-1974), Arnold Schönberg (1874-1951), Richard Strauss (1864-1949), Igor Strawinski (1882-1971) und Paul Hindemith (1895-1963) interpretierten ihre Werke mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Nach dem 2. Weltkrieg standen dann Sergiu Celibidache ( geb. 1912), Arthur Rother (1885-1972), Rolf Kleinert (1911-74) und Heinz Rögner (geb. 1929) am Pult. Derzeit ist Rafael Frühbeck de Burgos, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, zugleich Chefdirigent des Rundfunkklangkörpers. - Es war übrigens das RSB, das am 18. Mai 1945 das erste Konzert gab, das in Berlin nach Kriegsende stattfand.

In früheren Zeiten hatte manche Rundfunkanstalt fünf und mehr eigene Klangkörper. Vor allem Unterhaltungs- und Tanzorchester waren es, die neben Sinfonieorchestern und Chören eine bedeutende Rolle spielten. Eine Spitzenposition dürfte der Rundfunk der ehemaligen DDR gehabt haben, der einmal 10 Klangkörper beschäftigte, je fünf in Berlin und Leipzig. Heute ist diese Entwicklung in Deutschland stark rückläufig, da der Sparzwang eine feste Anstellung von 100 und mehr Musikern oder Sängern nicht mehr erlaubt. Dies ist sehr schade, da Rundfunk-Klangkörper nicht nur hervorragende Studioproduktionen durchführen, sondern auch im öffentlichen Konzertleben eine bedeutende Rolle spielen. Einige Sender, die heute noch über die nötigen Mittel verfügen, beispielsweise der Westdeutsche, Norddeutsche und Bayerische Rundfunk, gestalten interessante Konzertpläne, in denen sich eigene und funkfremde Klangkörper neben der klassischen Literatur vor allem dem zeitgenössischen Schaffen und der Chorsinfonik widmen. Diese Konzerte werden entweder live übertragen oder zu einem späteren Zeitpunkt als Aufzeichnung gesendet.

Ein gesonderter Abschnitt in einem Beitrag zur Musik im Rundfunk muss sich mit dem Auftragswesen beschäftigen. Bei der Förderung moderner musikalischer Werke haben sich von Anfang an viele Sender große Verdienste erworben. Bereits gegen Ende der 20er Jahre machten sich die Musikverantwortlichen Gedanken darüber, wie denn ein rundfunkspezifisches Musikstück klingen und welche bildende bzw. unterhaltende Funktion es im Programm der Sender haben sollte. Die Auftragserteilung gestaltet sich in der Regel so, dass Redakteure und Produzenten persönliche Kontakte zu Komponisten, Librettisten und Interpreten herstellen, um die Zielstellung des Auftrages zu formulieren und einer Realisierung zuzuführen. Ein Beispiel: Beabsichtigt ein Sender zu einem bestimmten Anlass, sagen wir, zu einem historischen Jubiläum, ein neues Werk uraufzuführen, so teilt man den Autoren seine Vorstellungen mit, setzt eine Frist und arbeitet einen Vertrag aus. Ist das Werk gelungen und entspricht in seiner inhaltlichen und formalen Gestaltung dem Auftrag, so wird es produziert und in einem öffentlichen Konzert zur Aufführung gebracht. - Oft konzentriert sich das musikalische Auftragswesen der Rundfunkanstalten auch auf die Förderung junger Komponisten und Interpreten. Und so haben viele heute bekannte Künstler einst einmal "ganz klein" beim Rundfunk angefangen.

Machen wir jetzt einen großen zeitlichen Sprung und blicken wir auf die letzten zwei Jahrzehnte, in denen es einen rasanten technischen Fortschritt gab. Rundfunkmusik präsentiert sich heute in digitaler "Hi-Fi-Quality", kommt über Kabel oder Satellit ins Haus, und man ist in der Lage, einen Sender weltweit auszustrahlen, buchstäblich für Milliarden Hörer auf allen Kontinenten. Heerscharen von Musikredakteuren Produzenten, Tonmeistern und Computerexperten sorgen sich um das musikalische Wohlbefinden der Hörer. Eine positive Folge der Internationalisierung des Rundfunk- und Fernsehwesens ist die Möglichkeit, bedeutende künstlerische Ereignisse aktuell in jede Wohnung zu übertragen, und zwar so, als säße man mitten im Geschehen.

Abschließend sei an ein interessantes Phänomen erinnert, das sich vor gut einem Jahr zutrug: Ein findiger britischer Redakteur hatte in den Archiven der BBC in London die Aufzeichnungen von Beatles-Konzerten aus den Jahren 1963-65 entdeckt und in Zusammenarbeit mit der Schallplattenfirma "Apples" veröffentlicht. Binnen weniger Wochen war die Doppel-CD ein Welterfolg. Aus dem Vorgang ist ersichtlich, welche Bedeutung die kommerzielle Nutzung von Rundfunkaufnahmen haben kann. Dies ist natürlich auch auf den Bereich der E-Musik übertragbar. Alte Produktionen mit berühmten Dirigenten oder Gesangssolisten sind auf dem Musikmarkt begehrt. Konzertaufzeichnungen haben eben durch die Live-Atmosphäre und das Spontane der künstlerischen Gestaltung immer einer Studioproduktion etwas voraus: sie sind zwar oft nicht ganz "lupenrein", was die musikalische Perfektion betrifft, aber sie haben mit ihren winzigen Unzulänglichkeiten und vor allem durch die zusätzliche Wiedergabe von Publikumsreaktionen eine sehr viel intensivere Wirkung auf den Hörer. Die zahlreichen CDs mit Aufnahmen aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts basieren häufig auf Rundfunkproduktionen, die nachträglich von erfahrenen Tonmeistern technisch "verfeinert" wurden. Man hat sie nachträglich "stereofonisiert", um heutigen Hörgewohnheiten entgegenzukommen.

Musik im Rundfunk ist ein breit gefächertes, faszinierendes Thema. Fazit: Kein anderes elektronisches Medium, auch nicht das Fernsehen, ist in der Lage, Musik in so perfekter Qualität und stets brandaktuell an die Hörerschaft heranzubringen. Musiksendungen des Rundfunks ermöglichen ein kollektives Erleben, haben also durchaus eine soziale Funktion und befördern ohne Zweifel die kulturelle Befindlichkeit großer Schichten der Gesellschaft. Solange es Rundfunk als Mittel der Kommunikation geben wird, bleibt auch die Musik ein entscheidender Träger seiner Wirksamkeit.

Horst Fliegel



Quellen:

1. Deutsches Rundfunk-Museum
2. Deutsches Rundfunk-Archiv


Erschienen in “Berlinische Monatsschrift”, Luisenstädtischer Bildungsverein e. V., Dezember 1995