Der Kurfürst spielte Gambe

Preußische Musikkultur zwischen Absolutismus und Aufklärung

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Friedrich Wilhelm von Hohenzollern, geboren 1620 in Berlin und gestorben 1688 in Potsdam, wurde 1640 Kurfürst von Brandenburg. Auf Grund seiner historischen Verdienste und seiner starken Persönlichkeit nannte man ihn später den “Großen Kurfürsten”. Der Beginn seiner Regentschaft fiel mitten in den Dreißigjährigen Krieg, der sein Land völlig verwüstet und entvölkert hatte und erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück beendet wurde. 1628 waren Wallensteins Söldner in die Stadt eingerückt, 1631 verzeichnete man den Höhepunkt der Pestepidemien, das Volk hungerte und ganze Stadtteile wurden von feindlichen Truppen niedergebrannt. Auch jegliches kulturell-künstlerische Leben war bis in die Wurzeln vernichtet. Friedrich Wilhelm übernahm also ein schweres Erbe, verstand es aber, durch kluges Taktieren territoriale und politische Gewinne zu erzielen. 1660 erlangte er die Souveränität seines Herzogtums Preußen. Mit einer einheitlichen Kriegs-, Steuer- und Domänenverwaltung legte er den Grundstein für den weiteren Aufstieg seines Landes. Er holte mit dem “Edikt von Potsdam” im Jahre 1685 die von Ludwig XIV. verfolgten Hugenotten nach Berlin und erreichte damit nicht nur einen demographischen, sondern vor allem auch kulturellen Aufschwung, der noch bis in die heutige Zeit nachwirkt.

Kurfürst Friedrich Wilhelm war es auch, der mit Nachdruck für die Entwicklung des städtischen Lebens sorgte, unter anderem die Anlage der Straße Unter den Linden befahl. Ab 1658 baute der Architekt Johann Gregor Memhardt die Stadt zu einer Festung aus, in der es mehrere Stadtmauern, viele Tore und Bastionen gab. Die Trasse der Linie 2 der U-Bahn verläuft heute auf den ehemaligen Fundamenten der Stadtmauer und die früheren Bastionen wurden zu Plätzen wie dem Spittelmarkt oder dem Hausvogteiplatz. Und es entstanden neue Stadtteile wie der Friedrichswerder oder die Dorotheenstadt, in denen freie Musiker lebten und arbeiteten, um sich im Jahre 1669 sogar zu einer Interessenvertretung in Form einer Gilde zusammenzuschließen. Ab 1672 entstanden Ausbildungsstätten für junge Musiker, die so genannten Stadtpfeifen.

Es gehört zu Friedrich Wilhelms Verdiensten um die Residenzstadt Berlin, 1661 eine kurfürstliche Bibliothek zu begründen, einen Botanischen Garten anlegen zu lassen und 1681 das Schloss Köpenick als Jagdschloss zu erbauen. Und auch ein Ausbau der Hofkapelle fand statt. Der Herzog selbst spielte die Gambe, ein damals übliches Streichinstrument. Ansonsten gab es an Spree und Havel zur damaligen Zeit nur wenige namentlich bekannte Komponisten oder Instrumentalvirtuosen. Einer war der Lautenist Esaias Reusner der Jüngere, der 1674 in Berlin eine Anstellung als Kammermusikus gefunden hatte. Er schrieb Suiten im französischen Stil, galant im Gestus und mit den damals üblichen zahlreichen Verzierungen versehen, mit denen er dem Publikum viel Freude bereitete. Reusner gab Sammlungen mit Lauten- und Streichersuiten heraus, darunter die "Neuen Lautenfrüchte - Allen dieses Instruments Liebhabern zur Ergötzlichkeit und Nutzen".

Das Hauptfeld des musikalischen Schaffens zur Zeit des Großen Kurfürsten war das Kirchenlied. Die Mark Brandenburg war bereits 1559 mit Kurfürst Joachim II. der Reformationsbewegung Martin Luthers beigetreten. Mit Kurfürst Johann Sigismund entfaltete sich der Kalvinismus, begründet von Johannes Calvin (1509-64), als besonders strenger Glaubensrichtung der Reformationsbewegung. Dies war auch die religiöse Heimat Friedrich Wilhelms, seiner Familie und seines Hofes. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, anderen Religionsgemeinschaften gegenüber tolerant zu sein. Trotz dieser Großzügigkeit kam es im 17. Jahrhundert auch in Berlin immer wieder zu heftigen Differenzen zwischen den evangelischen Kirchen, insbesondere ihren Geistlichen, die entweder zu den Anhängern der Lutherisch-Orthodoxen, der Kalvinisten oder der Pietisten gehörten. Das Kirchenlied in Berlin war in den Strudel dieser Auseinandersetzungen hineingezogen. Es war also folgerichtig, dass auch Sankt Nikolai, die im 13. Jahrhundert erbaute und damit älteste Berliner Kirche, von diesen Konflikten in starkem Maße beeinflusst wurde.

Seit dem späten Mittelalter war Sankt Nikolai eine Stätte hochentwickelter sakraler Musik. Nach dem Übertritt zur Reformation dominierte das Lutherische Bekenntnislied. Der kunstvolle Figuralgesang war Sache des Chores der Sängerknaben. Bei Sankt Nikolai entwickelte sich eine enge Verbindung von Komposition, Musiktheorie, Theologie und Musikerziehung. Die Kantoren der Nikolaikirche waren zugleich Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster. Im Jahre 1622 wurde vom Berliner Magistrat der gerade erst vierundzwanzigjährige Johann Crüger als Kantor an die Nikolaikirche und zugleich als Pädagoge an das Gymnasium berufen. Crüger wurde 1598 in Großbreesen bei Guben als Sohn eines Gastwirts und einer Pfarrerstochter geboren und starb 1663 in Berlin. Während seiner musikalischen Wanderjahre hatte er bei Paul Homberger, einem Schüler des berühmten Venezianers Giovanni Gabrieli, in Regensburg Komposition studiert. Seit 1615 war er Hauslehrer in Berlin und studierte von 1620-22 in Wittenberg Lutherische Theologie. In der Persönlichkeit Crügers verbanden sich venezianischer Geist mit den Auffassungen orthodoxer Lutheraner, die sich vor allem auf kunstvolle Figuralmusik im Geiste Luthers konzentrierten. Auf diesen Grundlagen entstanden viele Kompositionen Crügers, sowohl für sakrale als auch weltliche Anlässe. Erwähnt seien Kirchenlieder, Choralbearbeitungen, Hochzeitsmusiken für wohlhabende Berliner Bürger, achtstimmige Magnifikats, Vespern und Hymnen. Es währte nicht lange, und Johann Crüger galt als angesehener Repräsentant des Musiklebens im Zentrum der Stadt Berlin. Wertschätzung erlangte er auch mit Fachbüchern zu Fragen der Musiktheorie und Gesangsausbildung. Seine “Synopsis musica” von 1630 war die erste vollständige Kompositionslehre des 17. Jahrhunderts. Während der schlimmsten Jahre des Dreißigjährigen Krieges, in denen jedes musikalische Leben erstarb, verlor er seine Frau, zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und stellte seine gesamte schöpferische Tätigkeit ein. Als der Große Kurfürst nach Kriegsende den Wiederaufbau des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens vorantrieb, bot Crüger von sich aus seine Hilfe und Unterstützung an. Da aber in dieser Zeit die Differenzen zwischen Lutheranern und Kalvinisten erneut eskalierten, war es dem kalvinistischen Kurfürsten schlicht unmöglich, den Lutheraner Crüger als Leiter der Hofkapelle und als Kapellmeister des Berliner Doms einzusetzen. Und so blieb Crüger Kantor an Sankt Nikolai. Man kann annehmen, dass sowohl Friedrich Wilhelm als auch viele andere aufgeklärte Geister gewiss gern einen anderen Weg gegangen wären, aber auch ein absolutistischer Herrscher ist eben offenbar nicht immer gegen taktische Rücksichtnahmen gefeit. Crügers bekannteste Kirchenlieder sind “Nun danket alle Gott”, “Wie soll ich dich empfangen”, “Fröhlich soll mein Herze springen”, “Ach wie flüchtig, ach wie nichtig”, “Schmücke dich, o liebe Seele” und “Jesu meine Freude”. Das evangelische Kirchengesangbuch von 1949 enthält 18 Melodien von Crüger. Innerhalb der lutherisch-orthodoxen Kirchenlieddichtung erwarb sich ein Mann einen Namen, der ab 1657 als Diakon an die Kirche Sankt Nikolai berufen wurde: Paul Gerhardt, 1607 in Gräfenhainichen geboren und 1676 in Lübben gestorben. Gerhardt arbeitete bald sehr eng mit Johann Crüger zusammen. Auch er hatte wie Crüger in Wittenberg Lutherische Theologie studiert und war ab 1643 Hauslehrer in Berlin. Zu dieser Zeit gab es wohl die erste Begegnung zwischen Gerhardt und Crüger, die bald eine große Übereinstimmung ihrer theologischen und künstlerischen Auffassungen feststellten. Gerhardt übergab Crüger eine Reihe seiner Texte, von denen Crüger die meisten vertonte. Es entstand ein Gesangbuch, in dessen fünfter Auflage bereits 81 Texte Gerhardts enthalten waren. Eines der bekanntesten Lieder aus der Feder Paul Gerhardts ist der Choral “O Haupt voll Blut und Wunden”, den er 1656 geschrieben hatte. Seine Tätigkeit an Sankt Nikolai nahm ein jähes Ende. Der Große Kurfürst hatte in einem Edikt verfügt, dem “Kanzelgezänk” der Vertreter der religiösen Richtungen ein Ende zu setzen, um so die öffentliche Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen zu unterbinden. Die Geistlichkeit war aufgefordert, durch persönliche Unterschrift das Edikt anzuerkennen. Paul Gerhardt weigerte sich, zu unterschreiben und wurde 1666 entlassen. Zwar erreichten die Stadt Berlin und die mächtigen Zünfte seine Wiedereinsetzung im Jahre 1667, jedoch schon 1668 verließ er endgültig sein Amt und ging nach Lübben, um dort seine letzten Jahre zu verbringen.

Johann Crüger war, wie bereits erwähnt, 1663 gestorben und hatte die Eskalation der religiösen Differenzen nicht mehr erlebt. Aber sechs Jahre vor seinem Tode, nämlich 1657, nahm er den Auftrag Friedrich Wilhelms an, das gesamte ins Deutsche übertragenen Gesangbuch der Hugenotten neu zu bearbeiten und in mehrstimmiger Fassung herauszugeben. Crüger erwies sich als ein toleranter Künstler und veröffentlichte das bedeutende Werk 1658 unter dem Titel Psalmodia sacra.

Heute ist die Kirche Sankt Nikolai ein Museum. Links neben dem Eingang befinden sich zwei Tafeln, die an das Wirken der Herren Crüger und Gerhardt erinnern.

Horst Fliegel



Erschienen in “Berlinische Monatsschrift”, Luisenstädtischer Bildungsverein e. V., Juli 2001