Singende, klingende Stadt

Ein Musikfest des Berliner Sängerbundes

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Es waren rund 60.000 Besucher, die am 15. September 1996 der Einladung des Berliner Sängerbundes zu seinem Musikfest "Singende, klingende Stadt" folgten. An der Wiege Berlins, rund um das historische Nikolaiviertel, führten über 100 Chöre aus Berlin sowie Gastchöre aus Brandenburg und Polen Musik der unterschiedlichsten Genres auf. Der Berliner Sängerbund, Dachorganisation von 210 Chören mit mehr als 10.000 Mitgliedern, wollte mit diesem anspruchsvollen Vorhaben den aktuellen Leistungsstand vermitteln und die Begeisterung der Sängerinnen und Sänger für das gemeinsame Musizieren unter Beweis stellen.

Das Musikfest, das unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters stand und während der 46. Berliner Festwochen stattfand, wurde vielfältig unterstützt. Hauptsponsor war die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin, die für eine solide finanzielle Grundlage des Projektes sorgte. Aber es gab auch viele Förderer, so die Berliner ProKultur gGmbH, die in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt die personellen Bedingungen für die Organisation und Durchführung der "Singenden, klingenden Stadt" wesentlich verbesserte. Präsentiert wurde das Musikfest von der Berliner Zeitung, dem Sender Freies Berlin mit seinem B1-Fernsehen und dem Radiosender 88 8 sowie von der Antenne Brandenburg des ORB.

Es war eine gute Idee des Berliner Sängerbundes, die Konzerte ihrem Charakter entsprechend an historischen Spielstätten anzusiedeln. In der Nikolaikirche, dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden ältesten Gotteshaus Berlins, sangen die Chöre Alte Musik, also Literatur des Mittelalters und der Renaissance. Die Nikolaikirche ist ja ein besonders geschichtsträchtiger Ort, denn hier wirkten nicht nur die Kirchenliedautoren Paul Gerhardt (1607-76) und Johannes Crüger (1598-1663), hier erfolgte auch 1809 die Amtseinführung des nach hundert Jahren erstmals gewählten Magistrats, und schließlich fand am 11. Januar 1991 an dieser Stelle die konstituierende Sitzung des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses statt. Heute beherbergt das Gebäude ein Museum.

Vor dem Portal der Nikolaikirche, zwischen Bärenbrunnen und Knoblauchhaus, befand sich die Bühne der Kinder- und Jugendchöre, die im Mittelpunkt einer mehrstündigen Liveübertragung des SFB-Fernsehens B1 stand. Der Berliner Sängerbund widmet seinen jüngsten Mitgliedern besondere Fürsorge, was unter anderem in differenzierten Maßnahmen der Anleitung, Fortbildung und finanziellen Unterstützung zum Ausdruck kommt.

Im Kurfürstenhof, zwischen Poststraße und Spreeufer, erklangen deutsche und internationale Volkslieder. Er ist benannt nach Kurfürst Johann Sigismund (1572-1619), der hier, geflohen vor der "Weißen Frau" des Schlosses, in den Armen seines Kammerdieners Anton Freitag verstarb. Auch ein gewisser Giovanni Giacomo Casanova (1725-98) logierte hier im später eingerichteten Hotel "Zu den drei Lilien".

Geistliche Chormusik im Rahmen der "Singenden, klingenden Stadt" erwartete den Besucher in der Marienkirche. Sie ist die zweitälteste Kirche Berlins, 1292 erstmals urkundlich erwähnt, im Gegensatz zur Nikolaikirche noch heute als Gotteshaus genutzt. Ihre Akustik ist für Orgel- und Chormusik besonders geeignet. Erwähnenswert sind auch die zahlreichen Kunstschätze, so die Reste eines Totentanzes von 1484 und die 1702/03 aus weißem Marmor geschaffene Kanzel des Berliner Bildhauers und Baumeisters Andreas Schlüter (1660-1714).

Chormusik des 20. Jahrhunderts stand in der Parochialkirche, in der Klosterstraße unweit der Ruine des Grauen Klosters gelegen, auf dem Programm. Es ist ein Verdienst der hier tätigen "Gesellschaft von Kultur an der Parochialkirche", ein Forum für die zeitgenössischer Kunst geschaffen zu haben, das allgemeine Anerkennung genießt. Das Gotteshaus wurde 1695-1702 erbaut und ist 1944 bei einem Bombenangriff bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt. Der Wiederaufbau ist noch immer nicht vollendet.

Klassische und romantische Chormusik bot das Sängerfest in der Friedrichswerderschen Kirche. Sie entstand 1824-31 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) und dient heute als Museum, diesem bedeutensten Berliner Baumeister des 19. Jahrhunderts gewidmet. Schinkel, zugleich auch Architekt, Stadtplaner, Landschaftsmaler, Bühnenbildner, Innenraumgestalter und Lehrer, leistete wahrhaft Großes. Wer durch Berlin geht, trifft an vielen Orten auf seine Werke: das Alte Museum am Lustgarten, die Neue Wache Unter den Linden, das Denkmal der Freiheitskriege auf dem Kreuzberg, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, die Schlossbrücke und das Humboldt-Schloss in Tegel. Und wer sich anderenorts umsieht, der findet zum Beispiel das Schloss Charlottenhof in Potsdam, die Schauspielhäuser in Hamburg und Frankfurt/Main, den Leuchtturm in Kap Arkona und das Schloss Granitz auf Rügen, das Rathaus in Zittau und die Burg Stolzenfels am Rhein.

Im Hof des Marstalls musizierten am 15. September anlässlich der "Singenden, klingenden Stadt" die Berliner Musikschulen. Das Gebäude wurde 1896-1902 erbaut und diente der Unterbringung der 300 Pferde sowie der Kaleschen, Kutschen und Schlitten des Kaiserlichen Hofes.

Im Schlüterhof des Zeughauses, benannt nach dem bereits erwähnten Künstler, befand sich das Zentrum Deutsch-Polnisch-Französischer Chormusik. Das 1706 fertiggestellte Zeughaus war der erste barocke Großbau Berlins. Die Idee dazu stammte vom Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-88). Schlüters Werk sind die 22 Masken sterbender Krieger, die als Schlusssteine über den Erdgeschossfenstern im Innenhof dienen.

Die Bühne der Seniorenchöre des Berliner Sängerbundes im Rahmen der "Singenden, klingenden Stadt" stand im Hof der Staatsbibliothek Unter den Linden. Das neobarocke Gebäude errichtete Hofarchitekt Ernst von Ihne 1903-14. Seit 1992 ist es zusammen mit dem Haus II in der Potsdamer Straße Bestandteil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Zum heutigen Besitz gehören 8 Millionen Druckschriften, 113.000 Handschriften, 56.000 Autographe, 4.200 Inkunabeln (Bücher aus der Zeit vor 1500), 560.000 Musikdrucke, 840.000 Karten, Atlanten und Globen, 1,5 Millionen Mikrofilme und Mikrofiches sowie 9 Millionen Bilder. Somit ist sie die größte wissenschaftliche Bibliothek Deutschlands und eine der bedeutendsten der Welt. Besonders erwähnenswert ist die Musikabteilung, die auf Anregung des berühmten Chorleiters und Komponisten Carl Friedrich Zelter (1758-1832) eingerichtet wurde.

Jazz, Pop und Gospel präsentierte das Musikfest im Hof der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Gebäude wurde von Friedrich II. (1712-86) für seinen jüngeren Bruder Heinrich (1726-1802) als Stadtresidenz errichtet und war neben Hofoper, Hofbibliothek und Hedwigs-Kathedrale Bestandteil des "Forum Fridericianum".

Zum Musikfest gehörte auch ein "Offenes Singen", also ein gemeinsames Musizieren von Chören und Publikum, das auf dem Gendarmenmarkt veranstaltet wurde. Bis 1688 war der Platz Ackerland vor den Toren Berlins. Um 1700 wurden der expandierenden lutherischen und der französisch-reformierten Gemeinde der Hugenotten je ein Grundstück zugewiesen, wo bis 1705 die Französische Friedrichstadtkirche und bis 1708 die Neue Kirche errichtet wurden. 1730 entstanden auf Befehl des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. Stallungen für ein Regiment "Gens d' Armes", daher später der Name "Gendarmenmarkt". 1773 ließ Friedrich II. die Stallungen verlegen und ein "Französisches Comödienhaus" bauen. 1780-85 entstanden die beiden aufeinander bezogenen Turmbauten. Fortan sagte man "Französischer Dom" und "Deutscher Dom". 1801 ließ König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) von Carl Gotthard Langhans (1732-1808) zwischen den beiden Domen einen Neubau für das Nationaltheater errichten, der 1802 fertig wurde, aber bereits 1817 wieder abbrannte. An dessen Stelle entstand 1821 das Schinkelsche Schauspielhaus. Es wurde eröffnet mit Goethes "Iphigenie auf Tauris" und erlebte kurz darauf die Uraufführung der Oper "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber unter Leitung des Komponisten.

Das Musikfest "Singende, klingende Stadt" klang aus mit der Aufführung der Cäcilienmesse des französischen Komponisten Charles Gounod (1818-93) unter Mitwirkung von fünf Berliner und drei polnischen Jugendchören. Dieses Konzert fand im Berliner Dom am Lustgarten statt, 1905 als Predigt-, Fest- und Grabeskirche der Hohenzollern eingeweiht und nach schweren Zerstörungen im 2. Weltkrieg erst im Jahre 1993 festlich wiedereröffnet. Mit seinen 98 Metern Gesamthöhe und trotz reduzierter Außengestaltung bildet der Dom noch immer eine städtebauliche Dominante im historischen Zentrum.

Das Musikfest "Singende, klingende Stadt" war ein voller Erfolg. Der Berliner Sängerbund prüft, ob er daraus eine Tradition entwickeln könnte, vielleicht alle zwei bis drei Jahre. Die Berlinerinnen und Berliner würden es ihm gewiss danken.

Horst Fliegel



Erschienen in “Berlinische Monatsschrift”, Luisenstädtischer Bildungsverein e. V., November 1996