Schulchöre in Alt-Berlin

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Wenn man in alten Schriften blättert, etwa den “Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins”, so findet man hochinteressante Abhandlungen über das gesellschaftliche Leben früherer Epochen, unter anderem über das Schulwesen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert.

Elisabeth Fischer-Krückeberg beschreibt im Jahrgang 1933 sehr anschaulich, wie sich die “angehenden Magisterlein” des Grauen Klosters mit der Geschichte des Altertums, der griechischen Mythologie, den Klassikern und allerlei Zitaten quälen mussten und gewissermaßen als Ausgleich und zur Erbauung sangen und musizierten.

Nun muss man bedenken, dass es sich dabei nicht schlechthin um einen Schulchor handelte, sondern es war schon erstaunlich, welch umfangreiche theoretische und praktische musikalische Kenntnisse und Fähigkeiten bei den “Bürschlein” vorausgesetzt wurden.

Entsprechend der Rolle der Kirche im damaligen öffentlichen und häuslichen Leben bestand der Hauptzweck eines Schulchores jedoch in der musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes. Jede Kirchengemeinde und jeder Pastor hatten ein besonderes Interesse daran, über einen gut ausgebildeten, zuverlässigen Knabenchor zu verfügen. Und so kann man sehr wohl verstehen, dass der Kantor eines der wichtigsten Mitglieder des Lehrerkollegiums war. Aber er stand neben seiner Unterrichtstätigkeit auch noch im Dienste der Kirche und konnte sich dort als Komponist, Dirigent, Schriftsteller und Organisator voll entfalten.

Ein solcher Mann war der Kantor und Pädagoge Johann Crüger, eine für Berlin bedeutende Persönlichkeit. Er sorgte nicht nur für den Ruhm der Berliner Kirchenmusik über die Stadtgrenzen hinaus, sondern beförderte durch seine gediegene Arbeit auch das hohe Ansehen der Schule zum Grauen Kloster.

Eines der ältesten Dokumente, das Aufschlüsse über das Wechselspiel von Schule und Kirche im 16. Jahrhundert gibt, ist die Schulordnung des Grauen Klosters von 1574. Weitere wichtige Quellen sind die Kirchenordnungen von 1616, 1620 und 1649, die sich im Archiv der Nikolaikirche befinden. Die Schule zum Grauen Kloster war für die Kirchenmusik in den beiden Hauptkirchen Berlins zuständig, also für St. Nikolai und St. Marien. Und so hatte man folgerichtig auch das Kantorat geteilt: Es gab einen “Cantor Nicolaitanus” und einen “Cantor Marianus”. Der Nikolaikantor hatte bald eine Vorrangstellung, was dazu führte, dass der Marienkantor mehr ein Gehilfe des ersteren wurde. Der Oberkantor lehrte in den oberen Klassen, der Marienkantor bereitete die unteren für ihn vor. An jedem Montag, Dienstag und Donnerstag, mittags um 12 Uhr, versammelte er die Schüler der vierten und fünften Klasse, “welche etwas bey Verstand waren”, sowie diejenigen aus der Tertia, die im Singen noch nicht firm waren, zum musikalischen Exercitium um sich. Grundlage der Übungen war ein für damalige Verhältnisse weit verbreitetes Unterrichtswerk, das “Compendium musicae pro incipientibus” von Heinrich Faber aus dem Jahre 1548. Daneben wurde das für den sonntäglichen Gottesdienst vorgesehene Lied geprobt, das von seiner Bearbeitung her wegen seiner Mehrstimmigkeit einen hohen Schwierigkeitsgrad hatte. In der Kirche sang diese noch im Aufbau befindliche Gruppe jedoch nicht mit, sondern unterstützte nur den schlichten Choralgesang. - Man sieht, es war alles wohl durchdacht und bestens organisiert.

Das hohe Niveau des Musikunterrichts erkennt man auch daran, dass alle Noten an die Tafel geschrieben wurden. Bei jedem Schüler wurden also detaillierte musikalische Fähigkeiten und Kenntnisse vorausgesetzt.

Der Kirchendienst war eine außerordentlich anstrengende und zeitaufwendige Angelegenheit. Denn nicht nur sonntags war zu singen, sondern auch wochentags fand Gottesdienst mit dem Chor des Grauen Klosters statt. Und so marschierte man täglich in aller Herrgottsfrühe von der Klosterstraße zur Nikolai- bzw. Marienkirche, “fein ordentlich zu Paaren” und in Begleitung des gesamten Kollegiums. Aber auch während des Kirchgangs und auf dem Rückweg wurde gesungen. Übrigens: Seit Crügers Zeiten wurde der Chor mit dem Taktstock dirigiert. Dieses Requisit, das ja eigentlich nur zur Verlängerung des Armes dient, war also keineswegs eine Erfindung der späteren Sinfoniker! Neben Schule und Gottesdienst gab es für den Chor noch weitere Aufgaben, so bei Begräbnissen, Trauungen, Amtseinführungen, Kindtaufen und anderen Anlässen.

Blicken wir nun auf das 18. und 19. Jahrhundert.
Ebenfalls in den “Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins” findet sich ein Artikel von Prof. Dr. Paul Schwartz, der sich unter dem Titel “Altberliner Schulmusik” ausführlich und sehr anregend mit den sogenannten Kurrenden befasst. Darunter versteht man Vereinigungen armer, auf den Straßen und Höfen geistliche Lieder singender Knaben.

Die Kurrende des Grauen-Kloster-Gymnasiums wurde im Jahre 1704 als halb selbständige Institution begründet. Ein Lehrer wurde zugleich als Aufseher bestellt und gab auch Unterricht. Alle übrigen Kurrenden standen unter der Oberaufsicht jener Kantoren, deren Kirchenbezirk zugleich der Wirkungskreis für das öffentliche Singen war.

Der Kantor verwaltete die Kasse, war also für Ausgaben und Einnahmen verantwortlich. Beim Singen leitete ein Kurrendeführer das Unternehmen, in der Regel ein erwachsener Mann, der seine Aufgabe nur des Verdienstes wegen und nicht etwa aus Freude an der Sache übernommen hat. Und gerade in dieser Tatsache lag die Ursache für sehr bald einsetzende negative Entwicklungen.

In der Friedrichstadt waren zwei Kurrenden tätig, eine lutherische und eine reformierte. Lediglich bei der Auswahl des Aufsehers war die Konfession maßgebend. Die Kurrendaner wurden ohne Ansehen der Religion in einen der beiden Chöre eingereiht.

Einen ausgesprochen schlechten Ruf hatten diese Friedrichstadt-Kurrenden, wofür es viele schriftliche Beweise in den Berliner Archiven gibt. So gingen zahlreiche Anzeigen ein. “Mit Knütteln bewaffnet, sangen die Burschen auf den Straßen und verübten dabei allerhand Leichtfertigkeit und groben Unfug. Wer sie zurechtwies, wurde mit Schlägen bedroht.” Von den Einnahmen erhielten die Kantoren wenig oder nichts.

Die Kurrendeknaben entstammten den ärmsten Volksschichten, traten meist mit dem 9. Lebensjahr ein und blieben bis zum 14. Sie bekamen eine uniformähnliche “Berufskleidung”, die aus dreispitzigem Hut, Mantel, Hose, Strümpfen, Schuhen und Handschuhen bestand. Da jedoch möglichst viel Geld an die Kantoren, Führer und Knaben verteilt werden sollte, wurden ausschließlich minderwertige Sachen angeschafft.

Neben dem Singen auf Straßen, Plätzen und Höfen erhielten die Kurrendaner auch weitere Gelegenheiten, Geld zu verdienen, so beispielsweise bei der Überreichung des Abendmahls, bei Beerdigungen und bei Familienfeiern. Wenig vorteilhaft war auch die Tatsache, dass die Kurrenden sich ohne Wissen oder Auftrag der Schulleiter betätigten. Da wurden dann bei allen möglichen Gelegenheiten Lieder zweideutigen Inhalts gesungen, und natürlich gab es entsprechende Beschwerden.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahm das Hin und Her um die Kurrenden schier kein Ende. Und so wollen wir uns bei der Beschreibung des wenig rühmlichen Abgesangs kurz fassen. Die Berliner Behörden, die Bürger und auch die Lehrer und Kantoren trugen dafür Sorge, dass schließlich um 1848 die letzten Straßenchöre verschwunden waren.

Immerhin - wenn man auf heute berühmte Knabenchöre wie etwa die Kruzianer in Dresden, die Thomaner in Leipzig oder die Wiener Sängerknaben blickt, dann darf nicht vergessen werden, dass auch sie auf ähnliche altehrwürdige kirchliche Schulen zurückgehen, deren Wurzeln teilweise bis ins 13. Jahrhundert reichen.

Schade, dass sich in Berlin keine solche Tradition erhalten konnte.

Horst Fliegel



Erschienen in "Berlinische Monatsschrift", Luisenstädtischer Bildungsverein e. V., November 1994